Lost places


Mystische Orte, die Geschichte(n) erzählen
Andreas Stahl hat sich auf die Suche nach Lost Places begeben

Vergessene Orte, die ihren einstigen Glanz verloren haben und heute von Stille und Verfall geprägt sind: Lost Places üben eine magische Anziehungskraft aus, da sie das Vergangene mit einer mystischen Atmosphäre umgeben. Fotografen, Historiker und Abenteurer zieht es an diese Orte, um die Schönheit des Verfalls festzuhalten und die verborgenen Geschichten zu erkunden, die zwischen bröckelndem Putz und verrostetem Metall verborgen liegen.

So geht es auch dem Westerwälder Autor und Objektfotografen Andreas Stahl, der in seinem neuesten Buch „Lost & Dark Places Westerwald“ 33 vergessene, verlassene und unheimliche Orte in der Region vorstellt, die voller Geheimnisse steckt. So lager(te)n auf und unter dem kargen Boden des Westerwalds gewaltige Waffenarsenale, es gibt eine vergessene unterirdische Bedürfnisanstalt, verwaiste Tanzpaläste, gruselige Hotels und ruinöse Gasthäuser. Und einen Massenmörder, dessen Geschichte einem eiskalte Schauer über den Rücken jagen wird ...

Im Interview berichtet Andreas Stahl über seine faszinierende und geheimnisvolle Reise durch den Westerwald, was ihn an diesen vergessenen Plätzen so sehr begeistert und über die Erlebnisse, die er bei seinen Erkundungen gesammelt hat.

Was hat Sie dazu bewogen, Bücher über Ihre Heimatregion zu schreiben?

Nunja, ich bin ein waschechter und windgestählter Wäller, bin als Hausgeburt am höchsten Flecken des Westerwaldes geboren, meine Muttersprache ist Wäller Platt. Keine Region dieses Landes ist mir so vertraut, wie der Westerwald und der wiederum steckt voller Geheimnisse, Überraschungen, Schönheiten und Orten voller Mythen. Man muss sich nur die Zeit nehmen, sich auf diese einzulassen, sie zu entdecken. Und wenn man dann auch noch gerne schreibt, dann weiß man gar nicht, wo man anfangen und aufhören soll – hinter nahezu jeder Ecke ein neues Wunder.

Was muss ein Ort haben, um es in Ihre Bücher zu schaffen?

Das mag zwar jetzt ziemlich banal klingen, aber das Wichtigste – für mich – ist, dass der Ort irgendetwas in mir auslöst. Da ist es zunächst zweitrangig, ob dies Grusel- oder Angstgefühle sind, oder ob da mehr Erstaunen und Überraschung im Vordergrund stehen. Wichtig ist, dass meine Fantasie und meine Gefühlswelt angesprochen oder getriggert werden. Wenn ich irgendwo stehe und staune, mich frage, was das denn mal gewesen sein könnte. Finde ich hinter der nächsten Ecke vielleicht irgendwelche völlig überraschenden oder vergessenen Gegenstände? Welche Geschichten könnten sich hinter diesem Ort verbergen? Das ist schon sehr spannend. Auf der anderen Seite gilt es aber erst einmal, die Orte überhaupt zu finden. Und dann gilt es auch noch Bild- und/oder eigentumsrechtliche Aspekte zu berücksichtigen.

Warum haben Sie angefangen Lost Places zu suchen und wie findet man sie?

Letztlich habe nicht ich Lost Places gefunden, sie haben mich gefunden. Ich war eigentlich gar nicht auf der Suche nach ihnen. Es hat sich irgendwie so ergeben. Nach meinen beiden Westerwaldbüchern (Glücksorte und Blaue Glücksorte im Westerwald) war ich offen für neue schreibtechnische Abenteuer, an Lost Places habe ich dabei überhaupt nicht gedacht. Doch das Leben hält so manche Überraschung parat. In dem Falle war es eine zwanglose Unterredung auf der Frankfurter Buchmesse, in deren Folge mir das Angebot ins Haus flatterte, ob ich mir – mit bereits zwei veröffentlichten Westerwaldbüchern sei ich ja offenkundig ausgewiesener Westerwaldkenner – vorstellen könne, ein Buch zu Lost and Dark Places im Westerwald zu schreiben.
Das ist dann schon ein reizvolles Angebot und ein spannendes Feld. Ich wäre von mir aus gar nicht darauf gekommen, aber es hat einfach gepasst. Und ja, wie sucht – und vor allen Dingen, wie findet man solche?

Ich würde meine Vorgehensweise in vier Kategorien einordnen wollen: Zum einen sind da die Handvoll Orte, die einem einfach bekannt sind. Ich denke wohl jede und jeder kennt ein paar verfallene und verlassene Orte und das war bei mir nicht anders. Dann natürlich die Recherchen in Print- und Digitalmedien, in welchen über einzelne Orte berichtet wurde. Es gibt die „geheimen“ Landkarten, die im Internet kursieren, in welchen Lost Places (meist allerdings ohne weitere detailliertere Informationen) mit Fähnchen-Symbolen eingezeichnet sind. Und den ein oder anderen Tipp erhält man dann auch in Gesprächen. Auf Informationen aus internen Internetforen habe ich indes bewusst verzichtet.

Gibt es einen bestimmten Lost Place, der Ihnen besonders am Herzen liegt, und warum?

Das kann ich so nicht beantworten. Das hängt vermutlich von der jeweiligen Herangehens- oder Sichtweise ab. Wenn ich in Indiana Jones-Welten eintauchen möchte, fällt mir sicherlich die Bauruine „Hohler Zahn“ ein. Die erhebt sich da völlig überraschend aus dem Wald und wirkt so, als könne sie einem spektakulären Hollywood-Abenteuerfilm entsprungen sein.
Spannend finde ich aber auch das im Buch beschriebene Bundeswehrübungscamp, gerade weil es optisch überhaupt nicht an einen Lost Place erinnert, sondern man eher an ein Urlaubsidyll denkt. Erschreckend hingegen ist eine vormalige Raketenabschussstation, bei der nicht klar ist, ob vormals Atomwaffen hier lagerten, was einen wieder schaudern lässt. Und natürlich ist der entdeckte Bauhaus-Klon ein architektonisches Highlight, bei dem mir das Herz aufgeht und bei dem ich mir nur wünschen kann, dass alles so bleibt, wie es ist.
Hatten Sie jemals unerwartete Begegnungen an einem Lost Place, wie zum Beispiel mit anderen Menschen oder Tieren?
In Bendorf-Sayn habe ich tatsächlich den dort Zuflucht gefunden habenden Zirkus Frankello angetroffen. Ich habe damals aber dann darauf verzichtet, das Firmengelände näher zu inspizieren, was ich später, mit Genehmigung des Eigentümers, nachholte. Ansonsten, nein, habe ich nicht.

Welche Geschichten hinter den Orten faszinieren Sie am meisten?

Das Spannendste ist sicherlich, was diese Geschichten mit mir selbst machen, wie offen ich bin, diese in mir aufzunehmen. Das gilt für die Sach- und Wissensebene ebenso wie die emotionale Ebene. Auf der Sach- und Wissensebene habe ich Lehrreiches über das Gehör von Ziegen gelernt – was im Buch zu einer sehr zynischen menschlichen Auslegung führt. Ich weiß jetzt, was ein Interlock-Jersey oder eine Charmeuse sind, wo Kelten siedelten, wo der König von Mallorca brillierte und wie hilfreich es zuweilen ist, einmal über den eigenen Tellerrand zu schauen – so manche Lösung findet sich in keinem Lehrbuch.
Auf der emotionalen Ebene verwundert mich so manches. Wenn ich zum Beispiel die Geschichte des Massenmörders Angerstein nehme, so ist die Lektüre von rund einhundert Jahren alten Zeitungsberichten in drastischer Sprache schon sehr spannend. Wenn ich mir vorzustellen versuche, was wohl im Kopf des Herrn Angerstein vorgegangen sein muss und ihn zu seiner blutrünstigen Tat verleitete, schaudert es mich.

Warum sind Lost Places für viele Menschen so anziehend?

Lost Places regen die Fantasie an. Hinter jeder Tür, hinter jeder Ecke könnte ein Geheimnis lauern. Was war hier früher, welche Menschen lebten, arbeiteten, stritten, liebten sich hier? Warum ist nun alles verfallen? Das ist absolut spannend. Ich kann jedem und jeder nur empfehlen, sich einmal mit dem Niedergang einzelner Orte, Gegenden, Gesellschaften zu beschäftigen. Vor allen Dingen macht es auch etwas mit einem selbst.

Ich denke, die Arbeit zu diesem Buch hat mir selbst sehr viel geschenkt. Ich bin demütiger geworden. Die Erkenntnis, dass das Leben, unser aller Leben, endlich ist – ich denke, bei mir ist diese Erkenntnis vom Kopf in den Bauch gerutscht. Wie klein, wie unbedeutend doch der Mensch ist, das ist kein bloßes Wissen, das ist vor allen Dingen ein Gefühl – und damit wird es zum Geschenk. Ich denke, im Rahmen der Auseinandersetzung mit Lost and Dark Places bin ich tiefenentspannter geworden: Ist es nicht weitaus sinnvoller und besser, sich mit den Schönheiten des Lebens zu beschäftigen, statt sich wegen Nichtigkeiten zu zerstreiten? In diesem Sinne sind Lost (and Dark) Places so etwas wie ein Fingerzeig der Schöpfung.

Andreas Stahl
Lost & Dark Places Westerwald – 33 vergessene, verlassene und unheimliche Orte
ISBN 978-3-7343-2543-4
22,99 EURO
Bruckmann Verlag

Fotos: Andreas Stahl

Text: Jacqueline Schlechtriem