Wer Sophia Junk in emotionalen Momenten zuhört, bekommt Gänsehaut. Sie weiß, wie es geht, Menschen mit Worten zu fesseln, sie mitzunehmen und ganz genau zu vermitteln, was gerade in ihrem Kopf passiert. Sophia Junk ist in einer Zeit, in der Floskel-Interviews die Oberhand gewinnen, eine Sportlerin, die aus ihren Gefühlen nie ein Geheimnis macht. Nicht nach Enttäuschungen und erst recht nicht nach Erfolgen. Die 25-Jährige ist das, was man, trotz steil aufwärts zeigender Karriere, einen bodenständigen Athleten nennt. Und sie ist vor allem eines: schnell.
Olympische Spiele 2024
Sommer 2024, die Welt schaut zwei Wochen lang nach Paris. Olympische Spiele, die weltbesten Sportler aus allen möglichen Disziplinen versammeln sich auf einen Fleck. Zum ersten Mal befindet sich darunter auch Sophia Junk. So ein großes Wort wie Olympia passe gar nicht zu einem so kleinen Menschen wie sie, hatte sie vor ihrer Abreise mit dem deutschen Leichtathletik-Tross in die französische Hauptstadt gesagt. Und jetzt wurden ihre Erwartungen noch einmal übertroffen. „Paris war noch viel pompöser, viel größer als ich es mir vorgestellt hatte. Auch wenn ich Letzte geworden wäre, hätten die Erfahrungen und Eindrücke genauso ausgesehen.“
Junk, knapp 1,70 Meter groß, wird auf der Rundbahn des Olympiastadions von St. Denis eine ganz Große. Nach ihrer Olympia-Mission reist sie als Bronzemedaillen-Gewinnerin mit der deutschen 4x100-Meter-Staffel in ihre Koblenzer Heimat zurück. Neben der besonderen Auszeichnung befindet sich viel Stolz im Gepäck. Stolz auf das Ergebnis, aber irgendwann auch Stolz auf eine Entscheidung, die die Sprinterin der LG Rhein-Wied zwischen Vor- und Endlauf treffen muss: Muskuläre Probleme im Oberschenkel verhindern, dass Junk 100 Prozent abrufen kann. „Wir Leichtathleten sind als Einzelsportler geboren, aber wenn wir als Staffel auf der Bahn stehen, sind wir eine Mannschaft“, so die 25-Jährige.
Mit gebrochenem Herzen und nach vielen geweinten Tränen, wie sie später selbst erzählt, verzichtet sie auf die Final-Teilnahme. „Weil 99 Prozent vielleicht nicht gereicht hätten, und wir unbedingt unser Ziel erreichen wollten, eine Medaille zu gewinnen.“ Ihre vier Staffelkolleginnen Alexandra Burghardt, Lisa Mayer, Rebekka Haase und Gina Lückenkemper schaffen es, laufen auf Platz drei – auch für Sophia Junk. Nach dem Einlaufen ins vollbesetzte Stadion war die Siegerehrung Junks zweiter Gänsehaut-Moment, denn: „Ich hätte mir niemals erträumen können, dass ich eine Medaille gewinne. Das auszusprechen, ist immer noch absurd. Diesen Moment vergesse ich nie, weil bei Olympia dabei zu sein schon so viel Wert ist, auch wenn man als Leistungssportler natürlich immer die bestmöglichen Ergebnisse aus sich herausholen möchte.“
Immer wieder aufgestanden
Um es in der Leichtathletik-Sprache auszudrücken: Der Finalverzicht ist nicht die erste Hürde, die Sophia Junk genommen hat. Anderthalb Jahre vor Olympia musste sie sich für das Jahr 2023 aufgrund einer Schulteroperation ein stark reduziertes Wettkampfprogramm auferlegen. Die gebürtige Konzerin glaubt an sich, vertraut ihrem medizinischen und betreuerischen Umfeld und hat keine Angst, das Olympia-Ziel zu verpassen. „Für genau diese Momente bei der Siegerehrung in Paris geht man durch Tiefs, in denen man sich an seine sportlichen Träume erinnert“, sagt Junk und macht damit deutlich, wie wichtig der mentale Aspekt ist. „Das Olympia-Erlebnis ist der Lohn für so manche harte Zeit, Bestätigung dafür, dass jeder gegangene Weg und jede getroffene Entscheidung richtig war. Jedes Aufstehen nach einem Fall hat sich gelohnt.“
Die 25-Jährige ist nach Rück- und Schicksalsschlägen immer wieder aufgestanden. „Der Sport hat mir immer Halt im Leben gegeben“, sagt sie und meint damit vor allem die schwierigen Momente, als ihr Vater im Jahr 2015 unerwartet verstarb und sie nach einem schweren Unfall ihres ehemaligen Trainers bei der TG Konz, ihre sportliche Zukunft neu ordnen musste. Junk verließ mit 16 Jahren das Zuhause, ihre Familie und Freunde, um ins Koblenzer Sportinternat zu ziehen. Hier entstand die Nähe zu ihrem späteren Verein LG Rhein-Wied und der Kontakt zu ihrem neuen Heimtrainer Martin Schmitz. Es war der erste große Schritt auf dem Weg zur erfolgreichen Karriere, die früh internationale Medaillengewinne einbrachte. Einmal Gold und einmal Silber bei U20-Euro-, einmal Gold bei U20-Welt- sowie zweimal Gold und einmal Silber bei U23-Europameisterschaften reicherten die Sammlung großer Erfolge an. Olympia-Bronze ist – auch ohne Final-Teilnahme – mindestens genauso viel Wert, eher mehr, weil es in der Sportwelt schlichtweg keine größere Veranstaltung gibt. „Ich werde das wahrscheinlich erst alles verarbeitet haben, wenn ich nach Olympia wieder zu Hause bin“, mutmaßte Junk vor den beiden Wochen von Paris.
Ein Blick in die Zukunft
Ein paar Monate sind seitdem vergangen, die bislang größte Saison in der Laufbahn der Sophia Junk ist beendet. In der Jahreszeit der fallenden Blätter sammeln die Sprinter Kräfte für die Hallensaison, oder eben das, was im kommenden Jahr folgt. Auf die „Faule Haut“ legt sich Sophia Junk aber nicht. Des Leistungssports wegen ist die Polizeikommissarin lange im Jahr vom Dienst freigestellt. Aber ein paar Wochen heißt es dann doch: Wechselschichtdienst anstatt Training. „Dadurch habe ich mich mit ganz anderen Dingen als mit der Leichtathletik beschäftigt. Es wird immer noch etwas dauern, bis ich das, was in diesem Sommer passiert ist, alles richtig realisiere.“ Vielleicht dann ein Stück mehr, wenn sie die Medaille wieder in die Hand nimmt. Momentan befindet sie sich noch im Medaillenkoffer im Schlafzimmer. Wenn ihr Umzug aus Koblenz nach Frankfurt abgeschlossen ist, wird sie ihren Platz in der Glasvitrine im Wohnzimmer finden. „Druck“ ist ein wichtiger Begriff im Leistungssport. Das Jahr 2024 hat ein großes Stück von Sophia Junks Schultern genommen. Ihren sportlichen Lebenstraum hat sie sich in Paris erfüllt. „Ich bin einer der wenigen Menschen, der dieses Privileg genießen durfte. Jetzt bin ich viel gelassener.“
Doch in der Leichtathletik vergeht kein Jahr ohne große Meisterschaften. 2025 steht unter anderem die Weltmeisterschaft in Tokio, 2026 die Europameisterschaft in Birmingham an. Und Olympia 2028 in Los Angeles? „Das wird ganz bestimmt wahnsinnig toll. Aber ich will nicht in so großen Abschnitten denken. In vier Jahren kann viel passieren. Der Körper kann einem immer sagen ‚Bis hierhin und nicht weiter.‘ Es wäre auf jeden Fall schön, Olympia noch einmal zu erleben. Aber wo ich jetzt einmal dabei war, gehe ich alles eben etwas gelassener an.“
Fotos: Team Deutschland, picture alliance/dpa, privat