Dass Musik mehr ist als nur Melodie und Gesang, sondern auch die Stimmung beeinflusst und Emotionen weckt, ist nichts Neues. Doch Julian Prégardien, Cate Pisaroni und Kian Jazdi haben dieser Tatsache ein besonderes Projekt gewidmet. Der international erfolgreiche Tenor hat gemeinsam mit der Art-Direktorin und Medienexpertin sowie dem Musiker und Projektentwickler im Dezember 2023 das gemeinnützige Unternehmen „Liedstadt“ in Limburg gegründet – ein Kultur-Startup, das sich zur Aufgabe gemacht hat, Musik in all ihren Facetten einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Die Drei teilen sich nicht nur die Leidenschaft zur Musik, sondern auch die künstlerische Leitung. „Die Schnittmenge unserer Sichtweisen ist die Liebe zur Musik und zur menschlichen Stimme und die Vision, gemeinsam zu gestalten“, beschreibt Prégardien die Zusammenarbeit. Insgesamt beschäftigt das Unternehmen mittlerweile zehn freie Mitarbeiter, die sowohl im Projektmanagement als auch in der Künstlerbetreuung tätig sind.
„Brücke zwischen Gestern und Morgen“
Der in Limburg aufgewachsene Prégardien, der in einer bekannten Musikerfamilie groß geworden ist, sang bereits als Kind bei den Limburger Domsingknaben und trat damit in die Fußstapfen seines Vaters – Christoph Prégardien –, dessen Karriere dort ebenfalls begann. Nicht verwunderlich, denn Prégardiens Großvater war u. a. auch ein Gründungsmitglied der Limburger Domsingknaben. Als dieser im Sommer 2012 starb, organisierte sein Enkel ein Benefizkonzert im Limburger Dom, das am Geburtstag des Großvaters im April 2013 stattfand. Bei diesem Konzert ging es ihm „um den Brückenschlag zwischen Gestern und Morgen“, wie er seine Grundintention zusammenfasst.
Mit dem Erlös des Konzerts finanzierte er das Projekt „Canto elementar“, bei dem ältere Menschen Kindergärten besuchten, um dort mit den Kindern Volkslieder zu singen. „Kinder haben heute immer weniger Musikunterricht und die Wahrscheinlichkeit mit ‚alter‘ Liedkultur zusammenzutreffen, wird immer geringer“, sagt er. Mit diesem Projekt schaffte er eine Verbindung zwischen Jung und Alt, zwischen Tradition und Moderne.
Die Entwicklung der Liedstadt
Aufgrund seines Umzugs 2013 nach Bayern gab es zunächst keine weiteren Projekte. „Ich hatte neben Familie und Job keinen Raum, meine gestalterischen Ideen voranzutreiben“, erklärt Prégardien. Bis er sich 2023 das Projekt „Müller*in Wien“ einfallen ließ und an zehn verschiedenen Orten Schuberts „Die schöne Müllerin“ aufführte. Der Abschluss dieser Konzertreihe fand in Schuberts Geburtshaus statt und war für Prégardien nicht nur ein persönlicher Höhepunkt, sondern auch ein sehr emotionales Erlebnis, durch das die Idee für Liedstadt entstand.
So folgte im gleichen Jahr in Limburg das Event „Schubert mit allen Sinnen“, das er mit zwei befreundeten Gastronomen Fabian Solbach vom Restaurant „Margaux“ und Walter Meloni vom Café „Meloni“ und „Weinbar“ sowie mit der Kulturamtsleiterin Anna Vössing organisierte. Die drei Konzerte fanden an (für klassische Musik) untypischen Orten statt – dem historischen Rathaus Limburg, dem Margaux und dem Café Meloni – und waren die ersten großen Schritte Richtung Liedstadt. „Vielleicht ist dieses Event ein ganz gutes Beispiel dafür, wie man Musik, auch klassische Musik, direkt zu den Menschen, an ihre Wohlfühlorte bringen kann“, sagt er. „Lieder sind einfach perfekt dafür geeignet, Räume zu verwandeln und Menschen für eine gewisse Zeit in eine andere Welt einzuladen.“
Imagewandel der klassischen Musik
Das Image der klassischen Musik ist gerade bei einem Großteil der jüngeren Generation nicht unbedingt das Beste und wird häufig als verstaubt, langweilig oder „uncool“ wahrgenommen. Auch deswegen ist es Prégardien ein so großes Anliegen, die Verbindung zwischen Alt und Modern herzustellen, die Wahrnehmung der Musik aus Konzertsälen hinaus an besondere Orte zu tragen und die Präsenz dieser Musikrichtung zu stärken. „Dem klassischen Liederabend haftet etwas nicht Zeitgemäßes an“, erklärt er, „das möchte ich gerne ändern, denn das Einzige, was am Liederabend unmodern ist, ist die äußere Form.“
Denn entgegen aller Vorurteile, sind auch klassische Liedtexte immer noch aktuell. Sie sprechen Gefühle und Gedanken an, die denen von moderner Musik ähneln und die sich nur durch ihren Zeitgeist und gesellschaftliche Themen unterscheiden. Liedstadt möchte den Menschen vermitteln, dass jede Musik eine tiefgreifende Erfahrung und Inspiration sein kann.
Ein außergewöhnliches Festival
So entwickelten Prégardien, Pisaroni und Jazdi das Liedstadt-Festival, das dieses Jahr im Oktober sein Debüt in Hamburg feierte und das über zehn Tage hinweg mit 87 Konzerten und 70 verschiedenen Künstlern an mehr als 30 Standorten die Stadt in eine absolute Lied-Stadt verwandelte. Die Auswahl der Veranstaltungsorte war bei diesem Festival ebenso vielseitig wie die Musik der auftretenden Künstler. Konzerte in der Krypta von St. Michaelis, im alten Elbtunnel, in Cafés und Restaurants, in Galerien und Museen oder sogar in einem Dachgeschoss eines alten Kaufhauses, waren hier der Schlüssel dazu, Menschen, die nicht in einen klassischen Konzertsaal gehen würden, zu erreichen und für andere Musikrichtungen zu begeistern. Natürlich war auch die Elbphilharmonie ein Gastgeber, der nicht fehlen durfte.
Die Mischung der Musiker war ebenso facettenreich, nicht nur hinsichtlich des Musikstils, sondern auch bezüglich ihrer Herkunft und persönlichen Lebensumständen. So gaben nicht nur Stars der Klassikszene wie Konstantin Krimmel oder Prégardien selbst Konzerte, sondern beispielweise auch die vor dem IS geflohene Mais Harb, die kurdische Aktivistin Heja Netirk oder der blinde Instrumentalis Hicham El Madkouri. Auch Nachwuchstalente, Pianistinnen, Singer-Songwriter wie die auf Plattdeutsch singende Norma, Hamburger Pop- und HipHop-Künstler oder die im Quatsch Comedy Club auftretende „Feeministin“ hatten ihre Bühne.
Das Besondere an dem Liedstadt-Festival ist außerdem, dass mehr als die Hälfte der Events kostenlos ist. Allein beim Opening konnten 55 Kurzkonzerte an 15 Standorten besucht werden. Alternativ gab es hochpreisige Dinner mit exklusivem Musikgenuss oder vergünstigte Tickets für die unter 30-Jährigen. Auch hier wird deutlich, dass den Gründern wichtig ist, Musik für alle anzubieten.
Liedstadt auf Wanderschaft
Das Festival war mit ca. 7500 Besuchern ein sehr großer Erfolg, weitaus größer als sich Prégardien, Pisaroni und Jazdi erhofft hatten und alle selbst veranstalteten Konzerte waren ausverkauft. Das Publikum bestand aus einer bunten Mischung – Menschen, die zum ersten Mal ein klassisches Lied gehört haben, trafen auf Menschen, die noch nie live mit Hip-Hop oder traditioneller, außereuropäischer Musik in Berührung gekommen sind. Es kamen Familien, ältere Menschen, Studenten und viele Zufallsbesucher. Dies beweist, dass die Intention der Organisatoren, Menschen durch Musik zu vereinen und die Grenzenlosigkeit von Musik erlebbar zu machen, auf wunderbare Weise funktioniert hat. Liedstadt ist ein Festival, das sich dadurch auszeichnet, dass unterschiedlichste Künstler mit ihren unterschiedlichsten Interpretationen von Musik zusammentreffen und den unterschiedlichsten Besuchern ihr Talent und Handwerk, das zumeist ohne elektronische Verstärker und Mischpulte auskommt, präsentieren.
So geht das Liedstadt-Festival auf Wanderschaft durch musikalisch relevante Städte und wird im Schubert Jahr 2028 in Wien seinen Höhepunkt erreichen. Zudem werden bereits 2025 einzelne Veranstaltungen in Limburg, Wetzlar und Frankfurt stattfinden sowie Projekte in Berlin, Weimar und Leipzig. Mit diesen Plänen wird es Liedstadt auch in Zukunft gelingen, neue, ungewöhnliche Begegnungen zwischen Menschen untereinander und zwischen Mensch und Musik zu schaffen. Eine spannende Reise steht allen Beteiligten bevor und wird überall bleibende Eindrücke hinterlassen.
KONTAKT
Liedstadt gemeinnützige UG
Salzgasse 17
65549 Limburg
liedstadt.de
info@liedstadt.de
Fotos: David Königsmann, Sebastian Madej, Chris Gonz