Sandra Kiriasis


Westerwald statt Weltcup
Goldmedaillengewinnerin Sandra Kiriasis zwischen Kufen, Kraft und klarer Kante

Sandra Kiriasis hat erreicht, wovon viele träumen: olympisches Gold, Weltmeistertitel, den Aufstieg zur internationalen Spitzensportlerin. Heute lebt die ehemalige Bobpilotin im Westerwald, unweit des Wiesensees – ein Ort, der zur Ruhezone und zugleich zur neuen Wirkungsstätte wurde. In einem Golfhotel am See, auf dessen Terrasse einst ihre Entscheidung für den Umzug fiel, erzählt sie von ihrer Karriere, ihrer neuen Rolle als Trainerin und dem Engagement für die Region.

Der See selbst ist derzeit nur noch seinem Namen nach vorhanden – seit Frühjahr 2023 trockengelegt, die Stauanlage war beschädigt. Eine Rückkehr des Wassers scheint laut Behörden frühestens 2026 möglich zu sein. Kiriasis sieht darin ein Problem weit über die Freizeitnutzung hinaus. „Hier war mal richtig was los“, sagt sie. „Die Leute kamen am Wochenende aus der ganzen Region. Jetzt? Eine Wiese.“ Ihr Appell ist klar: „Es ist wichtig, dass hier Wasser ,as soon as possible‘ in den See kommt. Für die Region, für alle.“ Dafür will sie kämpfen, vielleicht mit einer öffentlichkeitswirksamen Aktion. Denn so ist sie, die Ausnahmesportlerin: anpackend, tatkräftig, sozial engagiert. Ihr Motto? „Geht nicht, gibt’s nicht!“

EINE BEEINDRUCKENDE KARRIERE AUF KUFEN
Geboren 1975 in Dresden, beginnt Sandra Kiriasis ihre sportliche Laufbahn früh. Im Alter von sieben Jahren holt sie bei einem Skilanglauf-Wettbewerb erst Silber – „die beste Motivation“, wie sie sagt –, um dann, gleich am nächsten Tag Gold zu gewinnen. Eine Reihenfolge, die sich wie ein roter Faden durch ihre Profi-Karriere zieht. Bis 1997 rodelt sie, 2000 wechselt die bis dahin Angestellte der Bundeswehr zum hauptberuflichen Bobsport – mit großem Erfolg. Olympia-Silber in Salt Lake City 2002, Olympia-Gold in Turin 2006, dazu neun Weltcup-Siege in Folge, sieben Weltmeistertitel, Europameisterschaftserfolge. Ihre Bilanz macht sie zur erfolgreichsten deutschen Bobfahrerin ihrer Zeit.

Zum Gespräch hat sie zahllose ihrer Medaillen mitgebracht. Runde, eckige, glänzende, matte. Kiriasis erzählt die Geschichten dahinter, vom unbedingten Willen durchzuhalten. Die goldene Medaille von Turin glänzt natürlich besonders, die Athle¬tin zeigt sie stolz: „Das ist das Größte, was man erreichen kann – aber es ist nicht alles.“ Was zählt, sei der Weg dorthin – und das, was danach komme.

Ein Erfolgsgeheimnis liegt vielleicht in Präzision und mentaler Stärke. Der Eiskanal ist eine Welt für sich, hart, steil und anspruchsvoll. „Stell dir vor, du hast einen fahrenden Einkaufswagen und musst reinspringen!“, veranschaulicht Kiriasis: „Du brauchst Kraft, Technik, Disziplin – und ein Team, das funktioniert“. Dass sie auch unter Druck abliefert, zeigt sich besonders 2006 bei den Olympischen Spielen in Turin, in deren Vorfeld ihr damaliger Trainer, Raimund Bethge, ein Urgestein des deutschen Wintersports, von einem Bob erfasst und schwerst verletzt wurde. Es war Bethge – neben dem wichtigen Heimtrainer Bernhard Lehmann – mit dem Kiriasis vor jedem Start eine ritualisierte Kopfnuss austauschte, der Motivator, Unterstützer, Bundestrainer. Doch er kämpfte sich beeindruckend zurück, um für seine Athletin, das Team, da zu sein und Kiriasis gewann in diesem Jahr Gold.

Bethge habe sie geprägt wie kein anderer. „Er hat mich gefordert, mir aber immer auch Sicherheit gegeben.“ Als Zeichen der Verbundenheit schenkte er ihr einst seine eigene Weltmeisterschaftsmedaille von 1978. „Das war mehr als ein Symbol“, betont Kiriasis bewegt. „Das war Vertrauen.“ Und dass sie wiederum Bethge schon im Vorfeld zu den Olympischen Spielen von Turin eine Weltcup-Medaille widmete, scheint diese Spiele rückblickend unter einem besonders goldenen Stern stehen zu lassen. Heute, sagt sie, seien Bethge – und Lehmann – immer noch wichtige Bezugspersonen.

IMMER ENGAGIERT
Nach dem Ende ihrer aktiven Laufbahn 2014 blieb Kiriasis dem Bobsport verbunden. „Wettkampf ist meine DNA“. Sie war Coach des jamaikanischen Frauenteams für die Olympischen Spiele 2018, entwickelte eigene Förderformate – stellte sich sogar 2019 den Herausforderungen des RTL-Dschungelcamps. Zur Herzensangelegenheit werden für sie dann die „Golden Underdogs“. Entstanden ist die Initiative aus einer einzelnen Anfrage: Eine nigerianische Athletin bat sie 2024 um Unterstützung – mit wenig Budget, aber viel Wille. Kiriasis sagte spontan zu. Aus dieser Begegnung wuchs ein internationales Trainingsprogramm für Talente aus kleinen oder finanziell weniger gut aufgestellten Nationen. Das Ziel: Chancengleichheit im Bobsport, wo allein eine Trainingsfahrt zwischen 60 und 100 Euro kosten kann – ganz zu schweigen von Schlitten, Rennanzügen, Mechanikern oder Physiotherapeuten. Und die Gesamt¬kosten, um nur an einer einzigen Saison teilnehmen zu können, gehen weit über einen Kleinwagen hinaus, oder auch zwei. Gemeinsam mit einem Team engagierter Mitstreiter organisiert Kiriasis dann Material, Sponsorenkontakte, Trainingslager. „Wenn meine Fahrerin aus Nigeria bei Olympia in die Top Ten fährt“, erklärt sie stolz, sei das für sie „vergleichbar mit einem Gold-Gewinn Deutschlands“, einer Wintersportnation mit ganz anderen finanziellen Mitteln.

Doch nicht nur international engagiert sich Kiriasis, auch der Nachwuchs in der Region liegt ihr am Herzen: Heute arbeitet sie mit dem TuS Hachenburg zusammen, gibt seit 2023 Trainingseinheiten für Kufensporttalente im Alter zwischen 12 und 29 Jahren. So bringt sie „mit viel Begeisterung“ und Erfahrung insbesondere der nächsten Generation direkt im Westerwald die Faszination Bob¬fahren nahe. Ihr geht es darum, „den Sport möglichst vielen zugänglich zu machen“, auch Talente zu entdecken, zu fördern. Und die Erfolge des Teams in Hachenburg sprechen für sich: erste Siege, stabile Trainingsgruppen, steigende Aufmerksamkeit.

Zusätzlich ist Kiriasis als Referentin und Trainerin für Unternehmen tätig. Zum Beispiel direkt vor Ort im Westerwald, aber genauso auch überall anderswo, wenn sie Outdoor-Teamevents, Seifenkistenrennen, GPS-Rallyes, professionelle Workshops durchführt. Das Ziel: Gruppen stärken, Führung erlebbar machen, Potenziale entfalten. „Mein ganzes Engagement hat alles mit meiner Person zu tun oder mit dem, was ich mal gemacht habe“, sagt sie. Ihre Lehre aus dem Sport: Erfolg entsteht nicht im Ziel, sondern auf dem Weg. Durch machen, anstrengen, neu fokussieren. Oder wie sie es selbst zugespitzt formuliert: „Mund auf und Hähnchen fliegt rein – funktioniert nicht.“

DER WESTERWALD ALS NEUE HEIMAT – UND ANTRIEB
Mit Blick auf ihre neue Heimat zeigt sich Kiriasis begeistert: „Den Westerwald habe ich sofort ins Herz geschlossen.“ Nach einem Golfturnier saß sie auf der Terrasse des Hotels, schaute über den See, „das glitzernde Wasser“ – und wusste: Das könnte ein Zuhause werden. Die Landschaft erinnere sie an das Erzgebirge ihrer Kindheit, sagt sie. Sie schätzt die Ruhe, die Weite, die Mischung aus Natur und Nähe zu Städten mit wichtigen Flughäfen. Und natürlich gehören auch Spaziergänge mit ihrer Hündin Rosalie zum Alltag, ein sportlicher Mischling mit glänzendem Fell und wachsamen Augen – eine treue Begleiterin.

Auf die Frage, wie sie die Westerwälder erlebt, antwortet Kiriasis: „Die Menschen hier sind wie überall. Es kommt ganz darauf an, was man ausstrahlt, das bekommt man auch zurück.“ Sie schätzt die Ehrlichkeit, den trockenen Humor, die Verlässlichkeit. Und sie spürt, dass sie angekommen ist – auch wenn es in der Region noch Themen gibt, die sie umtreiben, wie etwa das fehlende Wasser im Wiesensee.

„Ich bewege gern“, sagt sie von sich selbst. „Nicht nur körperlich – auch gesellschaftlich.“ Das passt ins Bild: Kiriasis ist keine, die Dinge einfach hinnimmt, sie brennt dafür, Eigenverantwortung zu übernehmen, „über den Tellerrand hinaus“. Und schmunzelt: „Ich habe immer gerne geholfen. Meine Mutter sagt, ich habe ein Helfer- und Gerechtigkeitssyndrom.“

Was bleibt, ist der Eindruck einer starken, disziplinierten Frau, die weiß, was sie will – und was sie geben kann. Ihr Lieblingszitat bringt es auf den Punkt: „Wenn du auf dem Boden liegst, dreh’ dich auf den Rücken – dann ist der Blick frei für die Sterne.“

KONTAKT
sandra@winner-effects.de
www.golden-underdogs.com
Instagram @sandrakiriasis

Text: Anne Herrig I RTL/Arya Shirazi, Anne Herrig, privat