30 JAHRE IM VORHOF ZUR HÖLLE


Deutschlands bekanntester Gefängnisarzt geht in Rente: Als Autor und TV-Pathologe bleibt Joe Bausch den Zuschauern erhalten.

Joe Bauschs Gesicht ist zerfurcht. Und jede Furche scheint eine Geschichte zu erzählen. Seine ganz persönliche Geschichte vom Leben im Knast. Hier ist er angekommen, vor 30 Jahren auf der langen Suche nach sich selbst. Nun ist Deutschlands bekanntester Gefängnisarzt in Rente gegangen. In seiner Fernsehrolle als Rechtsmediziner Dr. Roth im Kölner Tatort bleibt er den Zuschauern erhalten. Und als Autor schreibt er weiter an seinem dritten Buch. Nach den Bestsellern „Knast“ und „Gangsterblues“ will er dann in die Tiefen des eigenen Lebens abtauchen. „Es wird mein persönlichstes Buch werden“, sagt er.

„Die Würde des Menschen gilt auch im Knast. Uneingeschränkt.“

Joe Bausch ist ein markanter Typ. Und einer, der was zu sagen hat. Sein Gesicht erzählt Geschichten. Geschichten von der Kindheit in Ellar, dem Ausbruch aus der dörflichen Enge und dem Widerstand als junger Künstler, von der freiwilligen Rückkehr in die Enge des Knasts, von seiner Bestimmung als Gefängnisarzt und seinem Doppelleben als Schauspieler.

Der Knastarzt
30 Jahre hat Bausch als Gefängnisarzt in der Justizvollzugsanstalt Werl gearbeitet, war zuletzt Leitender Regierungsmedizinaldirektor. Nun hat er Abschied genommen. „Vielleicht nicht so ganz“, meint er fast ein Jahr später. Als sogenannter Netto-Arzt könne er sich schon vorstellen, auch weiterhin im Gefängnisbetrieb tätig zu sein, aber entbunden von der trägen und schwerfälligen Institution mit ihren bürokratischen Hürden. „Ich genieße den Umstand, dass ich in diesem System nicht mehr eine tragende Rolle spielen muss“, gesteht er. Ein System, das er maßgeblich mit verändert hat, das aber ein weiteres, ehrliches Engagement verdiene. 2006 wurde er von der „Internationalen Stiftung zur Förderung von Kultur und Zivilisation“ für besondere Verdienste um einen menschlichen Strafvollzug mit der Fliedner-Medaille ausgezeichnet.
„Beten und Büßen“ beschreibt er das Konzept deutscher Zuchthäuser noch bis Ende der 60-er Jahre. Die JVA Werl, spezialisiert auf harte Fälle, war da nicht ausgenommen. Nach dem 2. Weltkrieg diente Werl den Alliierten als Gefängnis für verurteilte Kriegs- und NS-Verbrecher. Heute ist Werl eine der größten und modernsten Justizvollzugsanstalten in Deutschland. In drei Hafthäusern sind rund 630 Einzel- und 240 Gemeinschaftszellen untergebracht.
Als Bausch 1987 in der JVA in Werl beginnt, hat er zwar sein Medizinstudium erfolgreich absolviert und bereits zwei Jahre als Assistenzarzt in einem Krankenhaus und einer Privatklinik gearbeitet, aber sicher ist er sich nicht, ob er den Anforderungen gewachsen ist. Es ist weniger die Angst vor der neuen Aufgabe, dort künftig zweimal wöchentlich Sprechstunde abzuhalten, als vielmehr seine gefühlte Unerfahrenheit. „Wie mag es wohl sein, einem Mörder, Dealer, Zuhälter, Vergewaltiger oder Kinderschänder gegenüberzusitzen?“, fragt er sich. Und muss erstaunt feststellen, dass er all den Menschen begegnet, in deren Rolle er als Schauspieler so oft schon geschlüpft ist.
Erstaunt ist er aber auch, als er erstmals im Krankentrakt steht. Das Mobiliar ist düster und abgewetzt, die Wände grau, die medizinische Ausstattung antiquiert. „Es hätte mich nicht gewundert, wenn Ferdinand Sauerbruch plötzlich um die Ecke gebogen wäre“, erinnert er sich schmunzelnd.
Mehr als zwei Jahre sollen es ohnehin nicht werden, hat er sich damals vorgenommen. Doch er bleibt, weil er merkt, dass er etwas bewegen kann. „Man muss neugierig bleiben – und empathiefähig“, sagt er. Und man müsse vorurteilsfrei an den Patienten gehen, auch wenn dessen Tat noch so schwer wiege: „Man macht als Arzt keinen Unterschied, ob da ein Friedensnobelpreisträger oder ein Schwerverbrecher liegt.“ Die Würde des Menschen gelte uneingeschränkt auch im Knast.
Gemeinsam mit seinem Team setzt er sich dafür ein, dass sich die medizinische und pflegerische Versorgung der Häftlinge verbessert und dass sich das Lazarett zu einer modernen Krankenstation und Polyklinik wandelt. Und er legt auch nach seiner Pensionierung weiterhin den Finger in gesellschaftspolitische Wunden, eckt gegen den rechten Mainstream an, dessen Zeitgeist auch in den Gefängnissen immer deutlicher zu spüren ist. „Ich bin nicht angetreten, um jedermann zu gefallen“, macht er deutlich.
Er engagiert sich für eine einheitliche europäische Einwanderungspolitik und für die doppelte Staatsbürgerschaft. „Warum kriegen wir das nicht hin?“, fragt er. „In den Gefängnissen eines Landes spiegeln sich die Probleme einer Gesellschaft wider“, mahnt er und verweist auf erschreckende Fakten: In der JVA Werl sitzen Häftlinge aus 40 Nationen ein. Rund 60 Prozent davon sind dem Pass nach deutsche Staatsbürger, leben aber oftmals in Parallelwelten mit eigenen Gesetzen. Unterschiedliche Ethnien auf engstem Raum, die sich nicht aus dem Weg gehen können, bergen enormes Konfliktpotenzial. Ausländerhass und Rassismus treten zunehmend offener zutage. Ein europaweit gültiges Strafgesetz und gemeinsame Richtlinien für den Strafvollzug wären ein Anfang, aber „was im Moment passiert, ist Nabelschau mit Scheuklappen statt Weitsicht. Während noch darüber gestritten wird, wie man eine Kerze ausbläst, brennt bereits der ganze Raum.“

„Wir müssen sozialisieren statt resozialisieren.“

Seine Gedanken kreisen immer wieder um die Frage, wie man zukünftig Verbrechen wenn schon nicht verhindern, dann doch vermindern kann. Seine Antwort lautet schlicht: Prävention. Nur so lasse sich dissoziales und kriminelles Verhalten so früh wie möglich korrigieren. Seit einigen Jahren begleitet Bausch Anti-Aggressions-Therapien für jugendliche Straftäter, setzt sich dafür ein, dass Politik und Sponsoren mehr Geld für die Behandlung früh auffälliger Kinder und Heranwachsender bereitstellen: „Alleine im vergangenen Jahr hat der deutsche Staat 36.000 Kinder aus desolaten Familienverhältnissen in seine Obhut genommen. Jeder Euro, der hier investiert wird, rechnet sich später im Verhältnis eins zu acht.“

Harte Kindheit
Dass er Straffälligen ohne Berührungsängste begegnet, schreibt er seinen Kindheitserlebnissen zu. Die „finsteren Gesellen“ bevölkerten auch den häuslichen Familientisch. In der Nachkriegszeit waren Joes Eltern dankbar für jede helfende Hand im landwirtschaftlichen Betrieb. Meist waren es ehemalige Häftlinge oder Freigänger aus den nahe gelegenen Zuchthäusern aus Diez und Butzbach. Diese Menschen haben bei ihm den Grundstein dafür gelegt, dass er sich für gebrochene Biografien interessiert habe, sagt er heute. Als Arzt und auch als Schauspieler.
Joe Bauschs Gesicht ist vielen Fernsehzuschauern bekannt als Rechtsmediziner Dr. Joseph Roth im Kölner Tatort und als Experte, Host und Moderator verschiedener Fernsehformate. „Wenn irgendetwas Kriminelles geschieht, werde ich zur Diskussion in Sendungen eingeladen“, erzählt er. Der Grund liegt für ihn auf der Hand: „Es gibt nicht so viele Ärzte, die sich gerne live vor der Kamera zeigen. Du kriegst nicht nur Applaus, Du kriegst auch manchmal eins in die Fresse.“ Das müsse man aushalten können. Und wollen.


Aushalten hat er gelernt. Seit seiner Kindheit hat er sich dem elterlichen Willen gebeugt, hat sich in die dörflichen Strukturen mit katholischer Prägung gefügt. Schon früh übernimmt er Verantwortung, muss mit anpacken, den kleinen Bruder behüten und auf die Tiere aufpassen, damit dem wertvollen Bestand nichts passiert. Beim Schlachten muss er sich fast übergeben, aber er will sich vor dem Vater keine Blöße geben und hält durch. Dafür hat er Privilegien. Den Besuch des Gymnasiums zum Beispiel, in der damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit. „Meine Freiheit habe ich mir hart erkämpfen müssen. Das hat mich geprägt“, sagt er rückblickend. Sein großes Vorbild ist bis heute sein Vater, auch wenn sein Verhältnis zur Heimat ambivalent ist. Dass dieser auf die traditionelle Nachfolge des ersten Sohnes als Landwirt verzichtet habe, sei sein größtes Verdienst gewesen, meint Joe Bausch anerkennend. Auch wenn er unter den starren Strukturen gelitten habe, seien gerade die es gewesen, die ihm geholfen haben, sich aus den Zwängen zu befreien.

Der Freigeist
Der Befreiungsschlag ist laut und heftig. „Unorthodox“, wie er selber sagt. Bausch zieht nach Köln, studiert Theaterwissenschaft, Politik und Germanistik. Er will Schauspieler werden, beginnt beim WDR als Kabelschlepper und arbeitet sich dort bis zum Aufnahmeassistenten hoch. Doch als freier Geist empfindet er auch hier die kleinbürgerliche Enge. Alles ist zu reaktionär, zu restriktiv. Traumatisiert wendet er sich von den seichten Unterhaltungssendungen wie „Sommersprossen“ und „Schaukelstuhl. Von Senioren für Senioren“ ab. „Ich fand das alles fruchtbar. So viel konnte ich gar nicht saufen, um das auszuhalten“, erzählt er lachend. Aushalten kann er auch die theoretische Wissensvermittlung an der philologischen Fakultät nicht. Nach 5 Semestern zieht er einen Schlussstrich und wechselt zum Jurastudium. Mit seiner damaligen Freundin zieht er nach Marburg, eröffnet dort eine Studentenkneipe und schwimmt sich erstmals richtig frei von seinem alten Leben als „ängstlicher Bauernbub“. Die Freundschaft zerbricht, Joe entdeckt seine zweite Liebe: die Medizin.
Ortswechsel Bochum. Bausch ist endlich angekommen. „Im Ruhrgebiet lernte ich wunderbares Theater kennen“, schwärmt er. Zadeks unkonventionelle Inszenierungen begeistern ihn: „Ich habe alles aufgesogen, was schräg war, authentisch, das pralle Leben.“
Nach dem Physikum wagt er sich zu seiner ersten Theaterprobe. Eigentlich wollte er „ums Verrecken“ nicht auf die Bühne. Aber dann tut er es doch, „fantasie- und alkoholschwanger“ - und ist angefixt. Seit dieser Zeit fährt er zweigleisig, studiert tagsüber und spielt nachts Theater. Schreibt eigene Stücke, bricht mit Tabus, spielt auch mal nackt. „Obsessives und tabuloses Theater“, nennt er es heute. Das allerdings schränkt seinen Radius bei seinen Bewerbungen als Assistenzarzt ein . . .
Einen genauen Plan für sein zukünftiges Leben hat er nicht. Er weiß nur eins: Nächtliche Theaterproben und verantwortungsvolle Arzttätigkeit sind nicht kompatibel. Fernsehen hingegen geht immer. Und da ist er schon längst kein Unbekannter mehr. Mit Götz George hat er bereits für den Kino-Tatort „Zahn um Zahn“ vor der Kamera gestanden und in mehreren Fernsehfilmen mitgespielt. „Mit meiner Fresse spielt man Bösewichter“, meint er schmunzelnd. Oder den mürrischen Tatort-Pathologen Dr. Roth. „Man hat mir die Rolle des Dr. Specht nie angeboten“, sagt er süffisant mit Blick auf den Schwiegermuttertyp Robert Atzdorn.

„Ich habe alles aufgesogen, was schräg war.“

Rückkehr auf die Theaterbühne
Das wird wohl auch nicht mehr passieren. Doch Bausch wartet nicht auf Angebote. Er macht sein Theater selbst. Seine Wunschaufführung ist fest verhaftet mit einer konkreten Botschaft: Die Auseinandersetzung mit Nazismus und Rechtsradikalismus. „Wir müssen uns den Ewiggestrigen entgegenstellen“, mahnt er. Während seines Medizinstudiums stand er mit Ingo Naujoks in dem Theaterstück „Oui“ des französischen Dramatikers Gabriel Arout auf der Bühne. Das Stück spielt 1944 in einem Gefängnis der Gestapo. Ein SA-Mann und ein jüdischer Gefangener sollen um ihr Leben kämpfen, indem sie den anderen töten. Das Kalkül geht nicht auf. Die Menschlichkeit siegt. „Mein Traum für die Wirklichkeit“, so Joe Bausch abschließend.

„Im Gefängnis spiegeln sich die Probleme der Gesellschaft wider.“

JOE BAUSCH
• geboren am 19. April 1953, aufgewachsen in Ellar, heute Gemeinde Waldbrunn
• ist Deutschlands bekanntester Gefängnisarzt in der JVA Werl, ging im November 2018 nach 30 Jahren in den Ruhestand
• spielt auch weiterhin im Tatort den Gerichtsmediziner Dr. Joseph Roth
• hat mit Tatort-Kollegen den Verein „Tatort – Straßen der Welt e.V.“ gegründet; setzt sich für philippinische Straßenkinder ein; ist Schirmherr verschiedener caritativer Projekte sowie Kuratoriumsmitglied der Aidshilfe NRW und des Gesundheitscampus NRW
• wurde 2006 für seine besonderen Verdienste um einen menschlichen Strafvollzug mit der Fliedner- Medaille ausgezeichnet
• hat 2013 das Bundesverdienstkreuz erhalten
• sammelte seine ersten Bühnenerfahrungen im „Theaterpathologischen Institut“, das mit skandalträchtigen Inszenierungen im Ruhrgebiet für Furore sorgte debütierte 1985 neben Götz George im Kinofilm „Zahn um Zahn“, spielte in mehreren Episoden von „Der Fahnder“ und „Auf Achse“ mit, war in der ARD- Daily-Soap „Verbotene Liebe“ zu sehen, spielte an der Seite von Ulrich Tukur in „Rommel“.
• moderierte vier Folgen der WDR- Serie „Kriminalzeit“, war regelmäßig im ZDF-Medizinaltalk „Die Ärzte“ zu sehen, führte als Host und Experte für SAT 1 durch die Sendung „Im Kopf des Verbrechers“, fürs ZDF „Überführt“. 2016 war er bei SAT 1 Präsenter und Moderator „Stell Dich Deiner Sucht“
• ist Autor; hat den Bestseller „Knast“ geschrieben, vor wenigen Monaten ist sein zweites Buch „Gangsterblues“ erschienen. Das hat er seiner Tochter Ella gewidmet
• schreibt an seiner Autobiografie
• hat nirgendwo mehr über Moral, Menschlichkeit und Menschenwürde gelernt als im Elternhaus und im Theater wurde nirgendwo schwerer geprüft als im Knast

Text: Edith Billigmann | Fotos: Edith Billigmann, © WDR/Martin Valentin Menke