Der Sprung ins Ungewisse
800 Meter: Der Blick aus dem Fenster verrät, es geht hinauf in schwindelerregende Höhen. 3.000 Meter: Die Ausrüstung wird gesichert, ein letzter Check. Gleich geht es los! 4.000 Meter: Die Tür des Flugzeugs öffnet sich, der Himmel rauscht vorbei. Auf dem Schoß des Tandempartners geht es an die Kante der offenen Luke. Es ist soweit: 3,2,1 Sprung! Mit mehr als 200 km/h dem Erdboden entgegen.
Claudia Breitbach erinnert sich noch sehr genau an ihren ersten Tandemsprung: „Erst wenn sich die Flugzeugtür öffnet, spürt man, wie schnell die Maschine ist. Und alles, was man von diesem Augenblick an sieht, ist die leere Tür . . .“ Zwischen diesem Moment und dem Sprung liegen nur wenige Minuten. Wie ein „Nymphensittich auf dem Ast“ habe sie sich beim ersten Steigflug gefühlt. „Man gibt sein Leben in die Hände eines anderen“, bringt es die sportbegeisterte Frau auf den Punkt. Claudia Breidbach hat genau das gewagt -obwohl in ihrem Fall eine große Unbekannte mitsprang. „Niemand wusste, ob die Prothese wirklich hält“, erinnert sie sich. Prothese? Ja, Claudia Breidbach wurde mit einer Dysmelie am linken Arm geboren. Ihr fehlt seit Geburt der linke Unterarm, an dessen Stelle sie nun eine Prothese trägt.
Liebe auf den ersten Sprung
Kaum hatte Claudia Breidbach wieder sicheren Boden unter den Füßen, stand für sie fest: „Das musst Du machen!“ Der Adrenalinkick des freien Falls ließ sie nicht mehr los. Sie wollte wieder springen und wieder und wieder – und dann vor allem selbstständig und allein. „Ich wollte zumindest die Chance darauf“, sagt sie. Dass es kein leichter Weg werden würde, das wusste die Sportlerin gleich zu Beginn. Was sie brauchte, war eine große Portion Überzeugungskraft.
„Ich musste ja Menschen mein Vorhaben erklären, die keinerlei Referenz hatten.“
Schließlich hatte vor Claudia Breidbach weltweit noch keine Frau den Versuch unternommen, mit nur einem Arm die deutsche Fallschirmspringerlizenz zu erwerben. Aber aufgeben, das kam für sie nicht infrage. Und ihre Beharrlichkeit zahlte sich aus. In Soest fand sie einen Sprunglehrer, der zugleich auch Fallschirmtechniker war, trainierte mit ihm zuerst im Windtunnel und tüftelte dann an einer Flugschirmausrüstung, die sie auch mit nur einem Arm betätigen konnte. Wenige Monate später war es soweit und Claudia Breidbach stand vor einem echten Meilenstein – sie erwarb ihre Sprunglizenz und damit die offizielle Erlaubnis, alleine Fallschirm zu springen. „Nach der Landung bin ich total ausgeflippt“, erzählt sie mit leuchtenden Augen. Schließlich hatte sie sich diesen Moment so hart erkämpft. Ein Stück der vollkommenen Freiheit. Doch es war nicht dieses Gefühl alleine, das die heutige Koblenzerin so sehr mit Freude erfüllte.
„Für mich war der Weg einfach viel weiter als für andere.“
Heute, mit ihren 863 absolvierten Fallschirmsprüngen, blickt sie zurück auf die Deutsche Meisterschaft im Fallschirmspringen 2015, als sie als Teil des Teams Karma in der Einsteigerklasse sogar den Sprung auf Platz 3 geschafft hat. Fünf Springer umfasste das Freifall-Formationsteam Karma, die damals einzige inklusive Mannschaft, die mit einer Handicap-Sportlerin bei Sprung-Wettbewerben antrat.
Mit einem Lächeln gegen alle Widerstände
Nicht nur beim Fallschirmspringen, auch im alltäglichen Leben steht die Sportlerin immer wieder vor neuen Aufgaben, die ihr diesen einen Schritt mehr abverlangen. Allen Rückschlägen zum Trotz ist Claudia Breidbach das, was man eine echte Kämpfernatur nennt – und das immer mit einem Lächeln im Gesicht. „Ich mache alles mit Freude“, erklärt sie. „Ich habe schon als Kind gelernt, für mich einen passenden Weg zu finden, die Lösung zu sehen, nicht das Problem.“ Es gab aber auch eine Zeit, in der sie nicht so selbstbewusst mit ihrem Handicap und dem Tragen einer Prothese umging. „Gerade in der Pubertät wollte ich nicht, dass man das sieht“, sagt sie. Heute sieht das ganz anders aus. Stolz trägt sie ihre Prothese, die schon durch ihr buntes Design ins Auge fällt. Mit diesem Hightech-Modell ist es ihr möglich, alle Finger einzeln anzusteuern und zu bewegen. Darüber hinaus stehen ihr 36 unterschiedliche Griffoptionen zur Verfügung. Ein Quantensprung, vergleicht man diese mit einer reinen Habitusprothese, die zwar optisch den fehlenden Unterarm ersetzt, nicht aber seine Funktionalität.
Die Motivation, auch anderen Betroffenen zu zeigen, was man mit nur einem Arm, der passenden Prothese und vor allem der richtigen Einstellung schaffen kann, hat Claudia Breidbach seit 2014 zu ihrem Beruf gemacht. Bei Anwendertrainings, Fortbildungen für Prothesentraining und Vorträgen gibt sie ihr positives Mindset an andere weiter. „Das ist eine sehr erfüllende Aufgabe“, sagt sie. Um auch mit Misserfolgen gut umzugehen, gibt Claudia Breidbach Betroffenen einen Rat mit, der nicht nur für Menschen mit Handicap eine gute Inspiration sein kann: „Vielleicht ist heute nicht der Tag, den Nagel in die Wand zu hauen, dann kommst du eben morgen wieder.“
Portrait
• Wurde am 30. Oktober 1970 in Polch geboren, ist aufgewachsen in Kobern-Gondorf
• Hat erst die Bauzeichnerlehre, dann das Architekturstudium erfolgreich absolviert
• War von 2000 bis 2014 bei der Sanierungsstelle der Stadt Koblenz beschäftigt, zuletzt als Stellvertretende Projektleiterin im Projekt Zentralplatz
• 2008 erster Tandemsprung, 2009 AFF-Ausbildung und Erlangung der Fallschirmlizenz
• Hat seit 2014 ihre Berufung zum Beruf gemacht und arbeitet als Training Manager für Bionic Upper Limb Prothesen zunächst bei Touch Bionics, seit 2016 bei der isländischen Firma ÖSSUR
• Sportliche Aktivitäten: Fallschirmspringen, Fitnessstudio, Wandern, Radfahren