DER HIMMEL SOLL WARTEN


Wie wird man 100 Jahre alt? Fotograf René Schwerdtel auf der Suche nach Antworten

„Wie wird man eigentlich 100 Jahre?“, wurde René Schwerdtel einmal gefragt. Er wusste es nicht und machte sich auf die Suche nach Antworten. Das war vor 15 Jahren. Seitdem hat er viele Portraits und noch mehr Erfahrungen gesammelt. Diese will er gemeinsam mit den Forschungsergebnissen des Max-Planck-Instituts zur Biologie des Alterns in einem Buch unter dem Titel „Lesebuch zum 100-Jahre-alt-werden“ zusammenfassen.

Ähnlich auch der Titel „100 Jahre Leben“ seines diesjährigen Kalenders, in dem er für das „wissner-bosserhoff“-Unternehmen Menschen mit ausdrucksstarken Bildern und bewegenden Eindrücken portraitiert hat. Für den Kalender 2022 wird er dem Geheimnis der Blue Zones nachgehen, den Zonen der Erde, in denen besonders viele Ü-100 leben.
Die bedeutendsten Portraitsammlungen hat Schwerdtel für Ausstellungszwecke dem Kölner Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns zur Verfügung gestellt. Für Forschungsgruppenleiter Dr. Joris Deelen eine wichtige Dokumentation, die tiefe Einblicke in das Leben hochbetagter Menschen gewährt.


Sein Fazit: „Die Lebensgeschichten der Portraitierten offenbaren Verhaltensweisen und Umstände für ein langes Leben, die meist mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen übereinstimmen: körperliche Ertüchtigung, eine gesunde und ausgewogene Ernährung und soziale Interaktionen bis ins hohe Alter hinein.“
Alt werden und dabei gesund und leistungsfähig bleiben, das möchte jeder, weiß der Fotograf aus vielen Gesprächen. Die Fortschritte der Medizin könnten das sogar in überschaubarer Zeit ermöglichen, auch wenn es für manchen noch wie Science Fiction klingen mag. Doch warum so lange warten? Es gibt auch heute schon Menschen mit einem außergewöhnlich langen Leben. Sie verbinde vor allem eins, meint Schwerdtel:

„Es geht nicht darum, wie alt man ist, sondern wie man sein Alter verbringt und gestaltet. Anders als weithin angenommen, haben psychologische Faktoren wie eine Lebensaufgabe weit mehr Einfluss als Sport und Ernährung.“

Für sich selbst hat er drei Regeln herausgearbeitet, die zwar ein langes Leben nicht unbedingt garantieren, aber die Chancen, 100 Jahre und mehr zu erreichen, deutlich erhöhen. Als da wären:
• nicht in Rente gehen
• soziales und kulturelles Interesse beibehalten
• ein harmonisches Familienleben pflegen und große Streitigkeiten meiden
Noch deutlicher formuliert es der Langlebigkeitsforscher Prof. Makoto Suzuki aus Okinawa, den René Schwerdtel interviewt hat und den er gerne zitiert:

„Im Japanischen nennt man es Ikigai - das, wofür es sich zu leben lohnt.“

Der etwas andere Altersruhesitz
Seine Reisen durch die Welt haben René Schwerdtels Sicht vom Altern verändert. In Würde altern zu dürfen, sei ein großes Bedürfnis, sagt er und verweist dabei auch auf sich selbst. Doch die meisten Einrichtungen seien auf die Pflege gebrechlicher und demenzkranker Menschen eingerichtet, die auf ständige Hilfe angewiesen seien. „Wieviel besser wäre es, wenn man schon zu einem Zeitpunkt in ein Seniorenheim einziehen könnte, in dem man die eigenen Bedürfnisse noch ausleben kann?“, fragt er nachdenklich. Einige Länder wie Japan und Holland hätten ihre Konzepte bereits dahingehend umgestellt, so Schwerdtel weiter. In Japan zum Beispiel gebe es keine Ausgangs- und Besucherkontrolle. „Die Großeltern sind Anlaufstelle für die Kinder, etwa wenn deren Eltern berufstätig sind“, erzählt er begeistert. Ein im Seniorenheim integrierter Supermarkt ermögliche selbstständiges Einkaufen. Das stärke das Gefühl der Unabhängigkeit, auch für Demenzkranke. „Die Wege sind ja überschaubar.“

Oder das holländische Konzept „Golden Coffee“: Das lege Wert auf gute nachbarschaftliche Beziehungen: „Einmal im Monat wird ungezwungen an Biertischen zum gemeinsamen Feiern oder Fernsehen oder Kaffee und Kuchen eingeladen.“

Um dies auch in Deutschland möglich machen zu können, müsse bei den Einrichtungsbetreibern ein Umdenken stattfinden. Sie müssten schon jetzt ein der digitalen Zeit angepasstes Umfeld schaffen, in dem die Bedürfnisse älterer, noch aktiver Menschen berücksichtigt werden. „Ein seniorengerechter Chatroom und WLAN, aber auch eine geänderte Kommunikation in den Häusern dürfen in modernen Seniorenheimen nicht fehlen“, ist Schwerdtel überzeugt. „Das schafft Lebensfreude - nicht nur unter den Bewohnern, auch beim Personal.“ Und weil er diese positive Atmosphäre für unabdingbar hält, hat er auch schon sein nächstes Projekt in Angriff genommen: Mit seiner neu gegründeten Werbeagentur „Adctive“ will er gemeinsam mit französischen Partnern für einen zeitgemäßen Auftritt in Seniorenheimen, Rehakliniken und karitativen Einrichtungen sorgen.

Kontakt

mail@reneschwerdtel.com

Text: Edith Billigmann; Fotos: René Schwerdtel; Edith Billigmann