Direkt vor den Fenstern liegt der Kornmarkt. Zahlreiche Gäste sitzen in einem Café auf der rechten Seite. Links genießen die Menschen nicht nur den Sonnenschein des späten Vormittags, sondern auch ein frühes Mittagessen in einem Restaurant, bzw. eine Eisspezialität in einem Eiscafé. Zahlreiche Einheimische und auch erkennbar viele Touristen spazieren über den größten Platz der Limburger Altstadt. Die einen auf dem Weg zum Einkauf in den zahlreichen Fachgeschäften. Die anderen auf der Suche nach Fotomotiven, mit meist griffbereiter Kamera in der Hand. Angesprochen auf diesen Ausblick schmunzelt Paul-Josef Hagen. Natürlich weiß er um das Privileg, an einer solchen Stelle zu wohnen und er schätzt es. „Manchmal habe ich den Eindruck, der eine oder andere Besucher
kommt zu mir nicht nur, um mit mir zu sprechen, sondern auch wegen des Blicks auf den Kornmarkt“, sagt er verschmitzt. Überhaupt wird in diesem Gespräch schnell klar, ihm sitzt der Schalk immer einmal wieder im Nacken.
Paul-Josef Hagen, Jahrgang 1947, ist in der Limburger Altstadt geboren. Da auch seine Mutter in der Altstadt geboren wurde, ist er per Definition ein „Edelsäcker“. Eigentlich ist er sogar so etwas wie ein „Edelsäcker+“, denn auch seine Großmutter wurde in der Limburger Altstadt geboren.
Ein echter Edelsäcker
Was bedeutet „Edelsäcker“ über den Ort der Geburt hinaus denn inhaltlich? Wieder der Anflug eines Schmunzelns in seinem Gesicht. „Na ja ...“ Dann ein paar Sekunden Pause. Hat der Begriff eventuell doch etwas mit Selbstreferenzierung derjenigen zu tun, die sich selbst als „Edelsäcker“ bezeichnen? Natürlich weiß Paul-Josef Hagen um diese Diskussion. Aber für ihn selbst sind zwei Aspekte untrennbar mit dieser Bezeichnung verbunden. Zum einen ist dies Stolz. Stolz auf eine Jahrhunderte alte Geschichte, die viel mit der Bedeutung Limburgs im Mittelalter zu tun hat. Aus dieser Zeit – und Paul-Josef Hagen erzählt dies wie ein lebendiges Geschichtsbuch - stammt der Begriff „Säcker“. Die engste Stelle des bedeutenden Handelswegs des Mittelalters, die „Hohe
Straße“ als Teil der „via regia“, war in Limburg. Händler, die ihre Pferdewagen zu breit beladen hatten, mussten an der engsten Stelle in Limburg erst einmal abladen, um sie dann passieren zu können. Diese abzuladenden Warensäcke wurden von den Limburgern dann durch die engste Stelle getragen und auf der anderen Seite wieder aufgeladen. Der Begriff „Säcker“ war geboren.
Zum anderen bedeutet der Begriff „Edelsäcker“ für Paul-Josef Hagen aber auch gerade Verantwortung. Für die Stadt, die Altstadt selbst und natürlich für das Wohlergehen der Menschen in dieser Stadt. Verantwortung ist für ihn dabei nicht nur ein Begriff. Er ist zu einem integralen Bestandteil seines Charakters und seines Lebens seit vielen Jahrzehnten geworden.
Der Weg zur Geschäftsübernahme
Geboren und aufgewachsen ist Paul-Josef Hagen im elterlichen Wohn- und Geschäftshaus „Betten Siebert“, in dem er auch heute noch wohnt. Der Blick auf den Kornmarkt war ihm also schon seit frühester Kindheit vertraut. Nach der Schulausbildung, damals noch in der Hospitalstraße, begann er eine Lehre in dem Limburger Textilgroßhandel Hülster + Kurtenbach und konnte sich nach einer verkürzten Lehre bereits nach zwei Jahren „Textilkaufmann“ nennen. Nach weiteren zwei Jahren in diesem Beruf, begann Paul-Josef Hagen eine Weiterqualifikation in Nagold an der dortigen Fachakademie für Textil. Sein Abschluss: Textilbetriebswirt. Ziel dieses Ausbildungsweges war für ihn und seine Eltern immer, das Fachgeschäft „Betten Siebert“ einmal zu übernehmen. Nach einem einjährigen Volontariat in einem Frankfurter Bettenfachgeschäft stieg er zusammen mit seiner jüngsten Schwester Mechthild Ende 1969 in das elterliche Geschäft ein. Ende der 70er Jahre übernahm er von seinen Eltern dann die ganze Verantwortung – und hatte sie bis 2014. Sein Vater hatte sich nach der Geschäftsübergabe an seine Kinder tatsächlich komplett aus dem Geschäft zurückgezogen. Nun stand er zwar gern, aber nur noch dann zur Verfügung, wenn man ihn um seinen Rat bat. Für dieses konsequente Zurückziehen ist Paul-Josef Hagen seinem Vater noch heute dankbar. „Aus vielen Gesprächen mit Geschäftskollegen in der Stadt weiß ich, dass die Übergabe von einer zur anderen Generation keineswegs immer so problemlos verläuft.“
Interessenvertretung für den Einzelhandel
Nicht nur hier, sondern mehrmals im Leben, so erinnert er sich, habe er viel Glück gehabt. Dafür sei er sehr dankbar. Und diesen Dank wollte und will er bis zum heutigen Tag an die Gemeinschaft, an die Gesellschaft, in Form von Engagement in einer politischen Partei und in verschiedenen Vereinen zurückgeben. Einen dieser Vereine hat er sogar selbst gegründet. Zusammen mit anderen Geschäftsinhaberinnen und Geschäftsinhabern hob er 1973 den Arbeitskreis Altstadt aus der Taufe. Damals habe er 50 D-Mark auf den Tisch gelegt und gesagt: „So, jetzt machen wir einmal Werbung für die Geschäfte in der Altstadt.“ Heute kaum mehr vorstellbar. Aber damals, so Paul-Josef Hagen, sei so etwas gar nicht so ungewöhnlich gewesen. „Einfach mal machen“ war damals nicht nur in diesem Fall durchaus üblich. Dies habe sicher auch etwas mit der zu dieser Zeit weit verbreiteten Aufbruchstimmung in der Gesellschaft zu tun gehabt.
Dies war auch die Zeit der umfangreichen Altstadtsanierung. Außer Limburg hätten in Hessen nur Alsfeld und Marburg eine echte Altstadtsanierung betrieben. Dieser weitsichtigen Entscheidung und dem damit verbundenen Engagement der Verantwortlichen in Limburg, so Paul-Josef Hagen, hat die Stadt noch heute viel zu verdanken. Viele tausend Besucher kämen jährlich gerade wegen der herrlichen Altstadt nach Limburg. Erste Kontakte hatte Paul-Josef Hagen zuvor schon mit einer anderen Organisation, die sich die Interessenvertretung des Einzelhandels auf die Fahnen geschrieben hatte - dem CityRing. 1970 war er zu einer Sitzung dieser Werbegemeinschaft eingeladen worden. Wie sich herausstellen sollte, hatte diese Einladung einen ganz konkreten Hintergrund, den ein Vorstandsmitglied des CityRings mit dem Satz: „Wir wollen einen Flohmarkt machen“ zusammenfasste. Seit 1974 und bis zum heutigen Tag ist Paul-Josef Hagen Cheforganisator des Limburger Flohmarktes, der zu den größten seiner Art in Deutschland gehört. Noch sehr gut kann er sich in der ersten Sitzung des City-Rings an den Satz von Heinz Vohl erinnern, damals Miteigentümer des Bekleidungshauses Vohl & Meyer sowie Vorstand im CityRing, den er mit einigen anderen Geschäftsleuten gegründet hatte: „Setz Dich mal hier hin Paul-Josef.
Hier kannst Du etwas lernen.“ Und Paul-Josef tat wie ihm empfohlen. Er lernte eine Menge und war bereits 1974 Vorstandsmitglied im CityRing. Aufgrund seiner „Lernerfolge“ war er zudem zwischen 1973 und 1996 zwei Mal Vorsitzender des CityRings.
Erstes Altstadtfest gerade einmal kostendeckend
In beiden Organisationen war er über viele Jahre Vorsitzender und realisierte immer wieder auch ganz neue Ideen. So zum Beispiel das erste Limburger Altstadtfest. Er kann sich noch gut erinnern. „Die Einnahmen lagen bei dieser ersten Veranstaltung ihrer Art in Limburg bei 9669 DM. Die Ausgaben bei 9185 DM.“ Die Zahlen stammen aus seinen Aufzeichnungen. Nicht nur hierbei, sondern auch für andere Bereiche der Kultur engagierte sich Paul-Josef Hagen in Limburg. So war er Ende der 70er Jahre Gründungsmitglied der Kleinkunstbühne Thing – damals noch mit Sitz in Staffel, später dann in der Limburger Stadthalle. Der Kontakt mit Künstlern und Schauspielern hatte wohl auch noch einmal prägenden Einfluss auf ihn ab den 80er Jahren. Zur Zeit der „Thing-Gründung“ war er als Beiratsmitglied in den Vorstand des Verkehrs- und Verschönerungsverein gewählt worden, den er seit 2016 bis heute als Vorsitzender führt.
So viel Einsatz für die Geschäftswelt, das Gemeinwesen und die Kommunalpolitik blieb natürlich nicht unbeachtet und ungewürdigt. 2008 erhielt Paul-Josef Hagen den Ehrenbrief des Landes Hessen. Unzählige Sitzungen, Gespräche, Wahlen, Bürgermeister und kommunalpolitische Entscheidungen später, blickt Paul-Josef Hagen auf zahlreiche Erfolge für die Stadt Limburg zurück.
ICE-Gebiet und Neumarkt-Tiefgarage
Zu den zentralen Projekten für die Entwicklung und die positive Zukunft der Stadt habe sich die Ausweisung des ICE-Gebiets und der Bau des ICE-Halts erwiesen. Die Anbindung an das europäische Hochgeschwindigkeits-Schienennetz sei für die Entwicklung der Stadt von herausragender Bedeutung gewesen. Und das angedachte Factory-Outlet Center (FOC) im ICE-Gebiet? „Ich war immer ein Gegner eines FOC in Limburg“, erklärt er mit Nachdruck in der Stimme. Es hätte aus seiner Sicht fatale Folgen für den Limburger Einzelhandel gehabt. Er erinnert sich aber noch gut an die Gespräche mit interessierten Investoren. Einer wollte sogar eine Seilbahn zwischen FOC und Dom bauen. Der interessierte Investor sagte damals: „Das wird ein geiles Ding“. Schlussendlich wurde nichts aus dem FOC in Limburg und damit auch nichts aus dem „geilen Ding“. In diesem Fall schlossen sich die Entscheider mehrheitlich der Position von Paul-Josef Hagen an, das FOC nicht in Limburg anzusiedeln. In einem anderen Fall konnte er sich allerdings nicht durchsetzen.
In den 70er Jahren gab es den Vorschlag, unter dem Neumarkt eine Tiefgarage zu bauen. Für Paul-Josef Hagen wäre es ein wesentlicher Beitrag für die Erreichbarkeit der Innenstadt und die wirtschaftlich Entwicklung des Einzelhandels und der Stadt gewesen. „Wir haben damals keine politische Mehrheit gefunden. Sehr schade“, sagt er. Diesmal ganz ohne Schmunzeln im Gesicht.
Noch immer merkt man, dass er sich über die damalige Entscheidung ärgert und sie für eine der zentralen Fehlentscheidungen in Limburg hält. Die Leitung eines Fachgeschäfts, führende Funktionen in der Kommunalpolitik und in Vereinen, zahllose Initiativenund auch noch Hobbys und persönliche Leidenschaften. Wie ist das alles zeitlich machbar? „In den ersten Jahren haben
mir meine Eltern viele Freiheiten gegeben und später hat mir meine im Geschäft engagierte Schwester Mechthild all dies erst möglich gemacht. Dafür bin ich ihnen heute noch sehr dankbar.
Die Schauspielerei
Die Frage, ob politisch aktiv zu sein auch etwas mit Schauspielerei zu tun habe, will er nicht wirklich direkt beantworten. Dafür erzählt er lieber, dass er tatsächlich auch schon Schauspieler war. Viele Jahre gehörte er zum festen Ensemble der Ardeck Burgfestspiele und hatte hier ganz verschiedene Rollen gespielt. Seine Lieblingsrolle sei die des Pfarrers Nikodemus in „Jasper und Jolinde“ gewesen. Der Pfarrer habe gern mal einen getrunken und konnte direkt mit dem lieben Gott reden. „Ein wenig wie Don Camillo“, meint Paul-Josef Hagen. Das Kostüm habe er sich damals von Weihbischof Dr. Gerhard Pieschl ausgeliehen. „Mach aber keinen Scheiß damit“, sagte er ihm bei der Übergabe. Man liegt sicher nicht falsch, Paul-Josef Hagen als echten Limburger und ganz fest verwurzelt und engagiert in und für seine Heimatstadt zu beschreiben. Er liebt es zum Beispiel noch immer, Einheimischen und Touristen die Schönheiten der Limburger Altstadt zu zeigen – mal im Kostüm des Nachtwächters, mal in Zivil. Immer aber mit besonderer Sachkenntnis und einem Schuss Humor.
Reisen um die Welt erweitert den eigenen Horizont
Trotz dieser Heimatverbundenheit ist er gleichzeitig auch ein Weltreisender im wahrsten Sinne des Wortes. Vier Kontinente und rund 80 Länder, die er schon mit dem Auto, landestypischen
Verkehrsmitteln und Rucksack, oder seinem geliebten Wohnmobil bereiste, hat er kennengelernt. Seit der Geschäftsschließung von „Betten Siebert“ im Jahr 2014, es hatte sich kein Nachfolger für die Geschäftsübernahme gefunden, hat er noch mehr Zeit, sich dem Reisen zu widmen. In diesem Jahr hat er zum Beispiel Albanien von seiner Europa-Zielliste abgehakt. In naher Zukunft möchte er noch Belarus und Island besuchen. Tibet, Bhutan und China haben bei ihm einen ganz besonders tiefe Eindrücke hinterlassen. Tief beeindruckt haben ihn auch die verschiedenen Reisen durch Wüsten. Zum Beispiel im Rahmen der Camel-Trophy 1987 durch die Sahara, bei der er sich auch als Koch für die Teilnehmer nützlich machte. Er erinnert sich: „Die Nächte in der Wüste sind unvergleichlich. Ohne das in Europa übliche Streulicht, konnten wir eine großen Teil der Milchstraße mit ihren zahllosen Sternen bestaunen. Und nach der extremen Hitze des Tages, wurde es in den Nächten bitterkalt.“ Demut sei in solchen Momenten ein sehr starkes Gefühl. Seine Reisen, so erzählt er am Ende des Gesprächs, haben ihm viele neue Erfahrungen gebracht. Er konnte viele andere Menschen, Kulturen und Sichtweisen kennenlernen. Gerade als kommunalpolitisch Verantwortlicher sei es nie falsch, die Lampe auch einmal etwas höher zu hängen.